„Wir müssen viel mehr einordnen, den Kontext finden“ - Ein Interview mit Oliver Noyan - Grüner Journalismus (2024)

„Wir müssen viel mehr einordnen, den Kontext finden“ - Ein Interview mit Oliver Noyan - Grüner Journalismus (1)

Er herrscht Krieg in Europa. Welchen Quellen kann man vertrauen und welche erleiden Vertrauensbrüche? Was macht die Situation mit dem Medienvertrauen Europas? Und wie ändert sich durch die neue Lage womöglich die journalistische Berichterstattung in Europa insgesamt? Ein Interview mit Oliver Noyan, leitender Redakteur für Deutschland beim EU-Magazin Euractiv.

„Das Erste was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit.“

Interview: Felix Wolf

Wie sieht die Lage bezüglich Fake News gerade in Europa aus?

Fake News haben stark zugenommen hat. Denn: „Das Erste was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit.“ Das ist natürlich immer so, aber ein Stück weit. Die Konfrontation mit unterschiedlichen Quellen macht es schwierig richtig von falsch zu unterscheiden. Und das gilt für beide Seiten. Wenn die Ukraine darüber berichtet, wie hoch die Verluste auf russischer Seite sind, dann ist fraglich, inwieweit das zutrifft. Die russischen Angaben sind dann wieder vollkommen anders. Aber es ist schwierig herauszufiltern, was wirklich richtig ist und was nicht. Und das fängt auf Regierungsebene an und geht bis auf die kleinste Ebene. Als Beispiel: Wir, Euractiv, wurden gebeten Interviewpartner zu finden, die von sich gesagt haben, dass sie deportiert wurden. Das Schwierige dabei ist, herauszufinden wie viel Wahrheit und wie viel Agenda hinter diesen Aussagen steht. Diese Agenda gibt es natürlich auch von ukrainischer Seite. Die gibt es auf allen Ebenen. Und das dann zu verifizieren, das ist unglaublich schwierig.

Was tun Sie, wenn eine Überprüfung einer Information faktisch nicht möglich ist?

Diese Verifizierungen brauchen ihre Zeit. Und in einem gewissen Nachrichtenrhythmus kommt es darauf an, schnell zu berichten. Wir bei Euractiv haben uns dann dazu entschieden, eine Nachricht nicht zu veröffentlichen, wenn wir sie nicht verifizieren können. Das ist aber auch problematisch, weil dann mitunter gute Themen wegfallen, die man bei mehr Zeit für die Überprüfung machen würde. Gerade auch für kleinere Newsrooms ist das schwierig. Euractiv würde ich als mittelgroß bezeichnen; in unserem Korrespondenten-Büro in Berlin sind wir zu fünft. In der deutschen Medienlandschaft sehe ich eine gewisse Tendenz zur Unparteilichkeit, was zu einem bias, einer Verzerrung führen kann. Das kennt man vor allem aus dem amerikanischen Raum. Zwei unterschiedliche Aussagen von gleichrangigen Personen, können zu einer Verzerrung der Berichterstattung führen.

„Wir müssen viel mehr einordnen, den Kontext finden“ - Ein Interview mit Oliver Noyan - Grüner Journalismus (2)

Können Sie das näher erklären, vielleicht mit einem Beispiel?

Beim Ukraine-Krieg erlebt man das auch in Deutschland. Es wird versucht, immer über alles ausgewogen zu berichten. Beispiel: das Asow-Regiment in der Ukraine. Der Fall ist klar: Das sind Rechtsradikale. Und das muss man verurteilen. Aber die Berichterstattung über das Asow-Regiment in Deutschland war fast gleich groß wie Berichterstattung über die Kriegshandlungen an sich. Auch dadurch findet eine Verzerrung statt. Es sind zwar Rechtsradikale, aber in einer solchen Kriegssituationen gibt es Dinge, die dann in der Berichterstattung offenbar wichtiger sind. Es geht also um das Verhältnis des Ausmaßes: Gibt man diesen Themen so viel Platz in der Berichterstattung, spielt man in das russische Narrativ hinein. Denn genau das ist das russische Narrativ: Die ganze Ukraine wird von Rechtsradikalen beherrscht und Russland ist da, um zu entnazifizieren. Es geht darum, Dinge journalistisch so gut wie möglich zu kontextualisieren, sodass niemand vom Artikel auf eine falsche Fährte gelockt wird. Man sollte verschiedene Positionen darstellen, sie aber nicht unkommentiert stehen lassen – sondern dem Publikum eine Art Kompass in die Hand zu geben, damit es die Texte richtig einordnen kann.

Wie kann man als Leser:in vorgehen, um eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen?

Es gibt ganz viele Initiativen, auch auf EU-Ebene, die sich ganz intensiv mit diesen Sachen beschäftigen. Zum Beispiel „EU vs Disinfo“, aber auch von der Bundesregierung ist es teilweise so, dass man verstärkt dagegen vorgeht. Auch von Seiten der Plattformen gibt es die Moderation der Inhalte. Im deutschen Raum basiert das auf dem NetzDG, dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Gewisse Inhalte müssen nach einer gewissen Frist gelöscht werden, wenn dort fälschlich etwas dargestellt wird. Das geht ein bisschen mehr in diese Hatespeech-Richtung aber, da geht’s natürlich auch ganz viel um Content-Moderation. Es geht eben darum, dass man diese Fake-News-Lage in den Griff kriegt.

Hat sich diese Situation denn verschlechtert?

Staats-Medien wie Sputnik oder Russia Today dürfen in Deutschland nicht mehr senden. Das hat dazu geführt, dass solche staatsnahe Nachrichtenseiten, die das Aussehen eines unabhängigen Mediums haben, rausgenommen werden. Das hat das Problem ein Stück weit entschärft. Die Problematik sehe ich eher bei Social Media. Gerade in Entwicklungsländern verbreitet sich das russische Narrativ.

Noch einmal grundlegend – die Verantwortung im Umgang mit Fake News, liegt sie beim Publikum oder den Redaktionen?

Ganz eindeutig auf Seiten der Medienschaffenden. Aus dem ganz einfachen Grund, dass Du einem Bürger ja nicht zutrauen kannst, dass er zu jedem Thema zehn verschiedene Artikel liest. Wichtig ist einfach das Fakten-Checken. Es wirklich so zu machen, dass keine Falschinformationen über die Medien hinausgetragen werden,. Denn das hat aus demokratischer Sicht negative Folgen für das Vertrauen der Bürger in die Medien generell.

Was genau müssen Medien hier beachten – oder verbessern?

Es gilt, von Medienseite aus, so gut wie möglich zu recherchieren und ein so vollständiges Bild zu präsentieren. Das heißt auch, richtig zu kontextualisieren und Zitate richtig einzubetten. Gerade bei Nachrichtenagenturen wie Reuters wird das deutlich. Die versuchen, gar keine Position zu dem Konflikt einzunehmen. Dadurch steht eine Aussage eines russischen Botschafters neben der eines ukrainischen. Das ist zum Einen problematisch, weil die Interessenlage der zwei Seiten unterschiedlich ist. Zum Anderen wird es zum Problem, weil so schlichtweg die falsche Darstellung von Sachverhalten, wie sie beispielsweise die russische Botschaft oder das Außenministern veröffentlichen, einfach kommuniziert werden. Die stehen dann teilweise unkommentiert in einem Artikel. Dadurch wird dem Leser suggeriert, dass man die Wahl zwischen diesen beiden Meinungen hat. Und da gilt es meiner Meinung, die Dinge zu kontextualisieren und einzuordnen. Damit klar ist, dass Aussagen von gewissen Offiziellen aus Russland nicht der Wahrheit entsprechen.

„Das ist so ein Schwall an News, gerade was den Ukraine-Krieg anbelangt, der einfach zu viel ist.“

Zieht diese Art der Berichterstattung dann ein schwindendes Medienvertrauen nach sich?

Ich weiß nicht, ob wir wirklich schon an dem Punkt sind. Es hat natürlich als Gefahrenpotential für die Demokratie ganz viele unterschiedliche Ebenen. Grundlegend ist die Gefahr da, dass Vertrauen abfällt, ja. Was ich aber mehr sehe, ist eine Art „Nachrichtenmüdigkeit“: dass Leute einfach weniger Nachrichten lesen. Was einerseits viel damit zu tun hat, wie eine Studie von Reuters zeigt, dass der Umgang mit diesem „News-Schwall“ auf der einen Seite überfordernd ist. Und es gibt viele Wiederholungen. Beispiel Corona: Irgendwann hatte man keine Lust mehr News über Corona zu lesen, weil es einfach zu viel war. Und beim Ukraine Krieg sieht man ähnliches: die Leserschaft geht zurück.

Wie sieht für sie eine gute Berichterstattung aus, auch im schnelle Berufsalltag, wo oft Aussage gegen Aussage steht?

Als Journalist lässt man die eigene Meinung aus diesen Berichterstattungen raus. Und stellt erstmal die Zitate von gewissen Politikern nebeneinander. Das ist auch der Schritt, den Agenturen bei der Berichterstattung gehen. Was man dann von journalistischer Seite aus machen muss, ist kontextualisieren. Ist der Kontext gut herausgearbeitet, lässt sich einfach zeigen, was Sache ist. Wenn man den russischen Außenminister zitiert, der sagt, dass es sich in der Ukraine nicht um Kriegshandlungen handelt, sondern um eine militärische Operation, dann kann man das nicht stehen lassen. Sondern muss das Ganze so einbetten, dass für den Leser klar ist: Was in der Ukraine passiert, ist nach allen völkerrechtlichen Standards und trotz der getroffenen Aussagen ein Krieg. Das war jetzt ein vereinfachtes und plakatives Beispiel. In der Praxis ist es etwas schwieriger zu machen, aber das ist das Handwerk dahinter.

„Es geht immer um die Diskurseinbettung. Die Frage ist dann nur: Einbettung in welchen Diskurs?“

Ist das der größte Punkt, der sich in der europäischen Medienlandschaft aktuell geändert hat – der Bedarf nach mehr Kontext? Oder ist dies ein absoluter Grundsatz, der bei jeglicher Art von Berichterstattung gelten muss?

Natürlich versucht man immer, den Kontext zu geben. Ich glaube nur, dass es hier jetzt zu einer Sensibilisierung kam. Auch, weil die Gefahr, gewisse Narrative zu bedienen, jetzt viel größer ist. Gerade bei solchen Kriegshandlungen mit dem steten Kampf der Kriegsparteien um die Deutungshoheit, da gewinnt das Ganze immens an Bedeutung. Es geht immer um die Einbettung in den Diskurs. Die Frage ist dann nur: Einbettung in welchen Diskurs? Weil es natürlich verschiedene Debatten gibt, die sich auf verschiedenen Zeithorizonten bewegen.

Haben Sie da ein Beispiel?

Ja. Man hat ja auch vor dem Krieg über Beziehungen mit Russland geschrieben – und sich dan etwa auf Nord Stream 2 bezogen. Der Ukraine-Konflikt von 2014/2015 bietet einen weiteren Diskurs, in den man aktuelle Russland-Nachrichten einbetten kann. Dieses Einordnen, das war vor dem Krieg viel einfacher. Jetzt ist es so, dass alles viel schneller passiert. Dadurch wird es erstmal grundsätzlich schwieriger mitzuhalten, rein nachrichtlich. Und zweitens wird eben die Kontextualisierung problematischer.

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